Fastentuch

Fastentuch 1

Ein Fastentuch für die Gartenkirche

Im Jahr 2014 fand zur Fastenzeit in der Gartenkirche eine Predigtreihe über die Gärten der Bibel statt. Im Zusammenhang damit entstand die Idee, ein Fastentuch für die Gartenkirche zu schaffen, welches thematisch den Namen der Kirche aufnehmen sollte. Die Grafikerin und Textilkünstlerin Constanze Rilke (*1978) aus Halle (Saale) wurde mit dieser Arbeit beauftragt. Sie studierte an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale) Malerei und Textile Künste.

Ihre Arbeit wurde zur Fastenzeit 2016 fertiggestellt und ist imposante 4 Meter breit und 7 Meter hoch. Die drei Stoff-Bahnen (jeweils 1,33 x 7 Meter) sind eine Jacquard-Webarbeit, die maschinell in Naila (bei Hof) gefertigt wurden. Dafür musste jeder Quadratzentimeter vorher am Computer einprogrammiert werden.

Fasten für die Augen

Die Künstlerin hat sechs Blüten fotografiert und zu einer Collage zusammengestellt. Die Blumen sind vervielfältigt, zerlegt, gespiegelt, vergrößert und verkleinert worden. Alle Elemente des Bildes sind ausschließlich organische Formen, die aus diesen Blüten entstanden sind. Zunächst geht es weder um eine Geschichte noch um ein Symbol oder ein konkretes Bild, das hier dargestellt werden sollte. Erstmal geht es einzig um den Eindruck, den dieses Tuch im Betrachter auslöst: Hier wird die Farbigkeit der Gartenkirche zurückgenommen. Im Anschauen des Tuches entsteht das Gefühl, in eine unendliche Tiefe einzutauchen, nie fertig zu werden mit dem, was da abgebildet ist und sich aller Greifbarkeit entzieht. Das Tuch möchte zum Verweilen, zum Meditieren, zum Stillwerden, Nachdenken und Beten einladen. Damit nimmt es einen wesentlichen Aspekt der Fastenzeit auf und verhüllt von Aschermittwoch bis Karsamstag den reich ausgestalteten Altar der Gartenkirche, um die Sinneseindrücke zu reduzieren. Ursprünglich waren die Fastentücher deshalb schlichte, weiße Leinentücher. Erst später wurden sie mit weißen Stickereien versehen, die Szenen aus der biblischen Geschichte darstellen. Ein solches Tuch aus den Jahren um 1300 ist im Brandenburger Dom erhalten. In seiner Einfarbigkeit und Schlichtheit hat es als Inspiration für dieses Fastentuch gedient.

Ein Paradiesgarten

Dieses rauschende »Blütenmeer« will aber auch die Assoziation eines Paradiesgartens hervorrufen und damit auf die Gärten der Bibel verweisen. Das ist eine zweite Ebene dieses Fastentuches. Die biblische Geschichte von Unheil und Erlösung des Menschen beginnt mit dem Paradies (1. Mose 2–3) und findet seine Antwort im Garten der Auferstehung (Johannes 20). Auch die Liturgie der Fastenzeit beginnt an Aschermittwoch mit der Geschichte vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies und endet zu Ostern im neu aufblühenden Garten des Lebens, in dem Christus als Gärtner des Lebens erscheint. Das Hohelied Salomos lässt die Liebenden einander im Garten begegnen, in dem sie das Paradies erahnen. Israel ist Gottes gehegter und gepflegter Weingarten. Jesus ringt im Garten Gethsemane um seinen Weg der Hingabe. Die ganze Geschichte des Heils lässt sich in Gartengeschichten erzählen.

Die Fastenzeit will den Glauben vertiefen und erneuern. Dieses Fastentuch soll dabei ein Impuls sein, sich selbst als Teil dieser biblischen Geschichte von Unheil und Heil, Sehnsucht und Erfüllung, Verlust und Erlösung, Tod und Auferstehung bewusst zu werden.

Himmlisch-irdische Flora und Fauna

Obwohl es zuerst um einen Gesamteindruck geht, ist keine der sechs Blüten zufällig gewählt worden. Hier ist eine dritte Ebene zu entdecken: Die Blüten verweisen in ihrer symbolischen Bedeutung, die sie in der Bibel oder im Verlauf der Kunstgeschichte gewonnen haben, zum einen auf Christus, seine Passion und Auferstehung, auf deren Feier die Fastenzeit vorbereitet, zum anderen sind sie Symbole für Maria. Die Gartenkirche ist eine Marienkirche!

Der Rand des Fastentuches wimmelt zusätzlich von Tieren. Sie haben zunächst als optische Begrenzung eine rein formale Funktion und doch ist auch die Auswahl und Platzierung jedes einzelnen Tieres nicht dem Zufall überlassen. Am unteren Rand finden sich insgesamt 33 verschiedene Tiere, die dort versammelt sind, weil sie ein Laster symbolisieren können: Hahn und Pferd stehen für den Stolz, der Pfau für die Eitelkeit, die Schnecke für die Faulheit, der Hase für die Wollust, etc. Am oberen Rand sind 15 verschiedene Tiere abgebildet, die für Christus oder eine Eigenschaft von Christus stehen können: Das Einhorn, das sich nur im Schoß einer Jungfrau fangen lässt, der Löwe, der den König repräsentiert, der Fisch als das Bekenntniszeichen der frühen Christen.  An den Seiten finden sich Tiere, die Tugenden und Laster, Heil und Unheil symbolisieren: Der Schmetterling steht für die Auferstehung und die zu Gott sich erhebende Seele. Die Schlangen sind eine Warnung vor der Sünde, aber auch die Aufforderung, klug wie sie zu sein. Der Distelfink verweist auf die Erlösung in der Passion Christi.

Insgesamt mag man in diesem Tier-Rahmen wichtige Themen der Fastenzeit erblicken: Der Kampf gegen Laster und Sünde, der Erhebung zu Gott, die Erlösung in Christus. Und letztlich ruft dieses Beisammensein der verschiedensten Tiere auch das biblische Bild des Tierfriedens auf: »Da wird der Wolf beim Lamm wohnen.« (Jesaja 11, 6). So wird der Bogen zurück zum Paradiesgarten geschlagen.

Die Künstlerin Constanze Rilke

Constanze Rilke
Die Künstlerin Constanze Rilke vor dem Fastentuch: Bild Ahrensmeier (EZ)
Homepage der Künstlerin